Wie wird das deutsche Gesundheitssystem von unseren europäischen Nachbarn wahrgenommen? Wir beleuchten verschiedene Aspekte im Dialog mit Expert:innen aus dem internationalen Umfeld von Roche. Ioana Stoenescu Head of External Affairs, Market Access and Reputation) von Roche Rumänien und Grzegorz Byszewski (Healthcare System Solutions Partner) von Roche Polen diskutieren in diesem Beitrag die Unterschiede und Herausforderungen, die die dortigen nationalen Gesundheitssystemen prägen und skizzieren, wie Deutschland in bestimmten Aspekten als Vorbild dient.

Als Unternehmen mit rund 18.000 Mitarbeitenden in Deutschland sind in unserer Belegschaft auch viele Erziehende: “Wir bei Roche setzen uns aktiv dafür ein, dass unsere Mitarbeiter:innen Zugang zu ausreichender Kinderbetreuung haben, bieten Betreuungsplätze mit Kooperations-Kitas an und ermöglichen durch flexible Arbeitszeitmodelle eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jedoch sind unsere Bemühungen keineswegs ausreichend, denn wir sprechen über ein gesamtgesellschaftliches Phänomen”, so Clemens Schmid, Arbeitsdirektor bei Roche in Deutschland. Denn viele Eltern wissen selbst: Die Suche nach einer zuverlässigen und qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung ist keine leichte Aufgabe. Seit 2013 haben Kinder in Deutschland ab dem ersten Lebensjahr einen gesetzlichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Das klingt gut in der Theorie, aber in der Praxis sieht es oft anders aus.

Wie bewerten Sie das deutsche Gesundheitssystem im Vergleich zu Ihrem eigenen nationalen Gesundheitssystem? Gibt es Unterschiede, die besonders auffallen? 

Ioana Stoenescu (Roche Rumänien

Deutschland hat ein Gesundheitssystem, das durch Dezentralisierung und eine harmonische Mischung aus öffentlichen und privaten Beiträgen gekennzeichnet ist. Im Gegensatz dazu stützt sich Rumänien vorwiegend auf ein öffentliches Gesundheitssystem, das durch Steuern und Sozialbeiträge finanziert wird. Zwar werden den rumänischen Patient:innen grundlegende Gesundheitsdienste zur Verfügung gestellt, doch ist die Gewährleistung eines einheitlichen Zugangs zu Leistungen in allen Regionen eine Herausforderung.

Besonders die Unterschiede in der Infrastruktur zwischen städtischen und ländlichen Gebieten führen in Rumänien zu Ungleichheiten bei der Bereitstellung einer einheitlichen und qualitativ hochwertigen Versorgung. Das System stützt sich in hohem Maße auf öffentliche Mittel, was zu Ressourcenknappheit und Einschränkungen bei der Leistungserbringung führen kann. Das deutsche Beispiel mit seiner dynamischen Struktur, die den Wettbewerb zwischen den Gesundheitsdienstleistern fördert, würde die Qualität und Zugänglichkeit der Dienstleistungen verbessern. Hier übertrifft Deutschland Rumänien deutlich. 

Das deutsche Engagement in Forschung und medizinischer Innovation führt dazu, dass Deutschland an der Spitze des medizinischen Fortschritts bleibt. Die Wahl zwischen einer gesetzlichen und einer privaten Krankenversicherung in Deutschland ist ein gutes Beispiel für eine Finanzierung des Gesundheitswesens, die den Bürger:innen Optionen bietet, die auf ihre Präferenzen und finanziellen Möglichkeiten zugeschnitten sind. 

Grzegorz Byszewski (Roche Polen):

In Polen gibt es seit 1999 eine neue Organisation des Gesundheitswesens, die auf den Erfahrungen des deutschen Gesundheitswesens basiert (das Krankenkassensystem, das zwischen 1999 und 2003 bestand und das Bismarcksche Versicherungsmodell). Gleichzeitig basieren viele der Abrechnungselemente des Systems auf dem britischen Modell. 

Das deutsche System wird in Polen sehr positiv wahrgenommen, als gut organisiert, organisatorisch effizient, mit einer ausreichenden Anzahl von Ärzten, aber vor allem adäquat finanziert. Im Dialog mit den Beteiligten erwähnen wir immer wieder das Beispiel Deutschland in Bezug, z.B. bei der Geschwindigkeit des Zugangs zu Innovationen (128 Tage gegenüber 827 Tagen in Polen), der Anzahl der Produkte, zu denen Patient:innen Zugang haben (Deutschland hat lt. WIAT Zugang zu 147 von 168 registrierten Behandlungen, Polen nur zu 59) und beim Zugang zur Versorgung (in Deutschland haben 99% der Patient:innen vollen Zugang, in Polen nur 22 %).

Polen gibt mehr als zehnmal weniger für die Gesundheitsversorgung aus als Deutschland, und das bei einer nur halb so großen Bevölkerung. Allerdings hat sich in den letzten Jahren die Situation der Patient:innen deutlich verbessert. Die Gesundheitsausgaben wurden gesetzlich geregelt, aber auch der Zugang zu Innovationen wurde schneller.

Welche kulturellen oder gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Deutschland, Polen und Rumänien beeinflussen die Gesundheitssysteme in diesen Ländern?

Ioana Stoenescu (Roche Rumänien):

Wenn wir das Schlüsselthema der gemeinsamen Nutzung von Gesundheitsdaten ansehen, so ist in Deutschland der Schutz der Privatsphäre und der Datenschutz kulturell stark verankert. Das trägt dazu bei, einen soliden Rechtsrahmen zu schaffen. Vor allem im Gesundheitswesen gibt es eine hohe Sensibilität für die Datennutzung. Strenge Vorschriften sorgen dafür, dass Patientendaten mit äußerster Vertraulichkeit behandelt werden und eine
ausdrückliche Zustimmung erforderlich ist. Rumänien legt zwar auch Wert auf den Schutz der Privatsphäre, hat aber keinen so strengen Rechtsrahmen für den Datenschutz. 

Betrachtet man die Systemstruktur, so hat Deutschland ein föderales System, in dem die Gesundheitspolitik oft auf Landesebene entschieden wird. Diese Dezentralisierung ermöglicht eine regionale Anpassung. Rumänien hat ebenfalls ein dezentralisiertes Gesundheitssystem, aber der Grad der Autonomie auf regionaler Ebene ist sehr begrenzt. 

Auch bei der Beteiligung an Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung unterscheiden sich die Länder kulturell bedingt. In Deutschland nehmen Patient:innen häufiger aktiv an der Entscheidungsfindung für ihren Hilfeplan teil, da sie Autonomie und Freiheit schätzen. Im Gegensatz dazu kann der kulturelle Hintergrund Rumäniens zu einem eher paternalistischen Ansatz neigen, bei dem die Patient:innen stärker auf das Fachwissen des medizinischen Personals vertrauen. 

Während die gesundheitsbewusste Kultur in Deutschland den Schwerpunkt auf die Vorsorge legt, und regelmäßige Untersuchungen und frühzeitiges Eingreifen fördert, gibt es in Rumänien eine kulturelle Tendenz, medizinische Hilfe in erster Linie bei akuten Gesundheitsproblemen in Anspruch zu nehmen. 

Grzegorz Byszewski (Roche Polen):

Die Polen sind daran gewöhnt, dass sie ein breites Spektrum an Gesundheitsleistungen erhalten, die völlig kostenlos sind. Bei begrenzten finanziellen Mitteln führt dies letztlich zu Wartezeiten für die Patient:innen. Gleichzeitig ist es nicht erlaubt, Subventionen für Medikamente oder private Krankenversicherungen zu tätigen oder Verfahren aus dem Leistungskatalog auszuschließen. 

Polnische Politiker, insbesondere nach der Pandemie, sind von der Notwendigkeit einer öffentlichen medizinischen Infrastruktur überzeugt, einschließlich öffentlicher Krankenhäuser. Das System wurde in den letzten 8 Jahren zentralisiert. 

Das polnische System ist auf dem Gebiet der elektronischen Gesundheitsdienste sehr weit fortgeschritten. Das elektronische Verschreibungssystem ist seit 2018 in Kraft. Wir haben elektronische Krankenscheine, elektronische Überweisungen und elektronische Krankenakten. Die polnische Öffentlichkeit hat die neuen Lösungen sehr gut angenommen und lobt die Abschaffung von Papierdokumenten. Der nächste Schritt, die Einführung elektronischer Krankenakten, ist eine Priorität für die neue Regierung.

Können Sie Beispiele für erfolgreiche grenzüberschreitende Zusammenarbeit oder Best Practices im Gesundheitswesen zwischen Deutschland und Ihren Ländern nennen?

 Ioana Stoenescu (Roche Rumänien):

Im Bereich der Krebsbekämpfung hatten Deutschland und Rumänien die Gelegenheit, in der grenzüberschreitenden Initiative Net4Care zusammenzuarbeiten. Net4Care ist eine vollständig von Roche initiierte Initiative, die sich auf die Umgestaltung der osteuropäischen Gesundheitssysteme nach Covid-19 konzentriert. Das Hauptziel dieses Projekts, das Anfang 2020 von Roche Affiliates ins Leben gerufen wurde, war die Verbesserung der Ergebnisse für Krebspatient:innen, indem standardisierte Verfahren für die Krebsdiagnose, -behandlung und -überwachung sowie für die Datenerfassung in den Krebszentren durch Zertifizierung und kontinuierliche Überwachung eingeführt wurden. 

An dem Projekt waren mehrere südosteuropäische Länder (z. B. Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Polen, Ungarn) und Deutschland als Wissenspartner beteiligt. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie Länder mit unterschiedlichen Herausforderungen in ihren Gesundheitssystemen gemeinsame Ziele finden und unter der Führung der Pharmaindustrie ein patientenorientiertes Public Private Partnership-Konsortium aufbauen können. An der Initiative waren auch externe Kunden und verschiedene Interessengruppen, TAEs, Patient:innen, Hochschulen und die Industrie beteiligt. Sie alle haben ihre Kräfte gebündelt, um die Ergebnisse für die Patient:innen zu verbessern. Die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) war für uns der wichtigste Wissenspartner, neben der London School of Economics und der Universität Leiden. 

Diese Initiative förderte nicht nur ein tieferes Verständnis für die Gesundheitssysteme in beiden Ländern, sondern ermöglichte es Expert:innen aus Deutschland und Rumänien auch, von den Erfahrungen des jeweils anderen zu lernen, bewährte Verfahren auszutauschen und bei der Patientenversorgung zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus haben Onkologiezentren in Rumänien und anderen Ländern den Prozess der DKG-Zertifizierung eingeleitet, um den Zugang zu innovativen Präventions-, Diagnose-, Behandlungs- und Pflegeansätzen für Krebspatient:innen zu verbessern. 

Welche Empfehlungen oder Ratschläge haben Sie für politische Entscheidungsträger in Polen und Rumänien, basierend auf Ihren Beobachtungen aus Deutschland? 

Ioana Stoenescu (Roche Rumänien):

Die politischen Entscheidungsträger:innen sollten die öffentliche Wahrnehmung berücksichtigen und darauf hinarbeiten, durch Transparenz und effektive Kommunikation Vertrauen aufzubauen. 

Ein Element, das Rumänien in Betracht ziehen sollte, ist die Erkundung verschiedener Finanzierungsquellen, einschließlich einer Mischung aus öffentlichen und privaten Beiträgen. So könnte die Entwicklung privater Krankenversicherungsoptionen gefördert werden, um die öffentlichen Mittel zu entlasten und die Qualität der Gesundheitsdienste insgesamt zu verbessern. 

Auch Investitionen in umfassende Präventionsprogramme können etwas sein, was wir von Deutschland lernen können, um eine gesundheitsbewusste Kultur zu fördern. Sinnvoll wären Initiativen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Bedeutung von Präventivmaßnahmen und routinemäßige Gesundheitsuntersuchungen, wobei der Schwerpunkt auf frühzeitigem Eingreifen und regelmäßigen Kontrolluntersuchungen liegen sollte. 

Und es gibt zwei weitere wichtige Elemente: Patient:innen und Partnerschaften. Die Befähigung des Einzelnen, sich aktiv an der Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen zu beteiligen und eine bessere Patientenaufklärung sollten gefördert werden. 

Der letzte, aber sehr wichtige Punkt ist, dass Rumänien die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor im Gesundheitswesen fördert. Öffentlich-private Partnerschaften können zusätzliche Ressourcen, Fachwissen und Innovationen fördern. Das kann dazu beitragen, Infrastrukturlücken zu schließen, die Qualität der Dienstleistungen zu verbessern und moderne medizinische Technologien einzuführen. 

Grzegorz Byszewski (Roche Polen):

Die Polen schätzen das deutsche System für die transparente Kommunikation von Veränderungen im Gesundheitswesen und das langfristige Denken, die Analyse der anstehenden Probleme und die rechtzeitige Umsetzung von Lösungen. 

Sicherlich können wir lernen, die Qualitätsmessung im Gesundheitssystem besser umzusetzen,

Dazu gehören insbesondere die Veröffentlichung von Krankenhausberichten (in Polen sollte eine solche Regelung im Jahr 2023 eingeführt werden, was aber letztlich nicht gelang). Das deutsche System zeigt auch den evolutionären Charakter der eingeführten Änderungen, und es gibt Kontinuität und Konsistenz in der Weiterentwicklung von Verbesserungsmaßnahmen.

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