Einen wichtigen Meilenstein für die medizinische Forschung in Deutschland markiert der 12. Juni 2024: An diesem Tag wurde die das Bundesministerium für Bildung und Forschung übergeben. Fast 150 Expert:innen aus den verschiedensten Bereichen des Gesundheitssystems haben monatelang gemeinsam beraten und diskutiert. Schließlich wurden Ziele und Maßnahmen definiert, um die Versorgung der Patient:innen mit innovativen Therapien auch zukünftig sicherzustellen und den Forschungsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken.

Dieses Strategiepapier war längst überfällig: Deutschland, die ehemalige “Apotheke der Welt", verliert zunehmend an Bedeutung als innovativer Forschungsstandort. 2016 belegte Deutschland einen Spitzenplatz nach den USA, doch 2021 lag Deutschland nur noch auf Platz sechs. Obwohl sich die Platzierung im Ländervergleich in 2023 etwas verbessert hat (Platz 4) nimmt die Anzahl der in Deutschland durchgeführten Studien weiter ab. Noch erschreckender: Bei der Anzahl der Studienteilnehmer:innen im Verhältnis zur Einwohnerzahl erreichte Deutschland in 2021 sogar nur . Das bedeutet, dass in Deutschland erheblich weniger Patient:innen von neuen Therapien profitieren als z.B. in Dänemark oder Großbritannien.

Dieser Rückschritt ist besonders bedauerlich angesichts des Paradigmenwechsels, der sich gerade in der Arzneimittelforschung vollzieht, denn die Medizin entwickelt sich weg vom “One-fits-all”-Ansatz hin zu maßgeschneiderten Therapien. Beispiele hierfür sind Antikörper oder Small Molecules, die bei bestimmten Mutationen in der Onkologie eingesetzt werden, oder neuerdings auch Gentherapien, die fehlerhafte Gene durch funktionierende ausgleichen und so durch eine Einmalbehandlung eine jahrelange Verbesserung der Erkrankung erzielen können.

Vor allem Patient:innen mit seltenen Erkrankungen hoffen auf die Entwicklung von Gentherapien. In diesem Bereich ist der medizinische Bedarf besonders hoch, denn häufig ist der Verlauf sehr schwer, oftmals tödlich. Lediglich 5 % der rund 8000 bekannten seltenen Erkrankungen sind bisher therapierbar. Die Forschung trägt dieser Situation Rechnung: Inzwischen sind in Europa 20 Gen-und Zelltherapien zugelassen, meist für Indikationen mit einer geringen Anzahl von Betroffenen. Zu rund 2.000 Gen- und genetisch modifizierten Zelltherapien laufen derzeit Studien. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Zahl der Neuzulassungen zukünftig erheblich zunehmen wird. Das ist eine große Chance für die Patient:innen, aber auch eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem, denn diese Therapien sind nicht nur extrem komplex in der Herstellung, sondern benötigen auch effizientere Strukturen im Gesundheitssystem.

Die Bundesregierung hat mit der Nationalen Strategie für Gen- und Zelltherapien einen bedeutenden Schritt gemacht, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Nun ist es wichtig, die Umsetzung anzustoßen. Björn Lamprecht, der mit vier weiteren Kolleg:innen für Roche aktiv an der Entwicklung der Strategie mitgearbeitet hat, erläutert die Herausforderungen und Chancen dieser innovativen Therapien und wagt für uns einen Blick in die Zukunft der medizinischen Versorgung.

Björn: Als Biologe habe ich in meiner Forschungszeit immer den größten Mehrwert darin gesehen, die Mechanismen einer Erkrankung zu entschlüsseln und daraufhin zielgerichtete und nebenwirkungsarme Therapien zu finden. Gen- und Zelltherapien erfüllen genau diesen Anspruch. Im Prinzip ist eine Chemotherapie das Gegenteil von zielgerichtet, denn sie unterscheidet nicht zwischen gesunden Zellen und Tumorzellen. Bei einer CAR-T-Cell-Therapie können Immunzellen gentechnologisch so verändert werden, dass sie spezifisch die Tumorzellen erkennen und nur diese bekämpfen. Und eine Gentherapie kann die Funktion genau des Gens ersetzen, das fehlerhaft arbeitet. Das fasziniert mich.

Björn: Mit den Gen- und Zelltherapien haben wir eine neue Ära in der Medizintechnologie erreicht. Der Weg dahin war lang und mit jedem Schritt hat die Komplexität der Therapien zugenommen. Ein sehr kleines Molekül wie Aspirin ist wenig komplex und lässt sich vielleicht mit einem einzelnen Stein vergleichen. Vor rund 20 Jahren traten wir dann die Phase der biotechnologisch hergestellten Antikörper ein. Hier sind wir bei der Komplexität eines Hauses. Bei Gen- und Zelltherapien hat sich die Komplexität noch einmal drastisch erhöht, so dass wir hier von der Dimension einer ganzen Stadt sprechen können. Mit Gentherapien besteht nun erstmals die Möglichkeit, nicht nur die Symptome zu lindern, sondern auf genetischer Ebene direkt an den Ursachen anzusetzen und so den Krankheitsverlauf erheblich zu verändern, vielleicht sogar zu heilen. Das ist zumindest die Hoffnung.

Und jetzt stehen wir, wie immer bei neuen Technologien, vor neuen Herausforderungen. Das hat vor ungefähr zwei Jahren das Parlament erkannt und sich damit beschäftigt, wie wir unser Gesundheitssystem bereit machen können für diese neuen Therapieoptionen. Das Ziel: Gen- und Zelltherapien den Patienten:innen bestmöglich zur Verfügung zu stellen. Man wollte Hürden auf dem Weg zur Behandlung identifizieren und Lösungen finden. Das steht hinter der Nationalen Strategie.

Eine Multi-Stakeholder-Strategie zur Verbesserung der Patientenversorgung und Stärkung des Forschungsstandorts Deutschland

Björn: Gerade bei Gen- und Zelltherapien ist Deutschland in den letzten Jahren in Rückstand geraten. Das fängt beim Studienstandort Deutschland an, bei dem wir im Ländervergleich keinen Spitzenplatz mehr belegen. Gerade im Bereich der Gen- und Zelltherapien ist es aber extrem wichtig, dass Patient:innen, die ja meist an sehr schweren Krankheiten leiden, frühzeitig Zugang zu innovativen Behandlungsoptionen bekommen. Auch die Behandler:innen  haben durch Studien die Möglichkeit, schon früh Erfahrungen mit neuen Medikamenten zu sammeln. Aber beinahe alle Prozesse, von der Idee einer Therapie über die Translation von der Forschung bis zur Herstellung, sind unnötig aufwändig und dauern durch hohe bürokratische Anforderungen oft viel zu lange. Auch hier hat man ein deutliches Verbesserungspotenzial erkannt. Im Prinzip geht es darum, in allen Bereichen des Gesundheitssystems Kompetenzen und Kapazitäten aufzubauen und Bürokratie abzubauen.

Björn: Die Schwierigkeit liegt hier vor allem in der Evidenzgenerierung, also dem Erkenntnisgewinn durch Daten. Die Studien, die einer Zulassung vorangehen, können die Wirksamkeit und Sicherheit einer Therapie zeigen. Da jedoch die Zahl der Studienteilnehmer bei Gen- und Zelltherapien meist sehr klein ist und wir uns häufig im Bereich der langsam voranschreitenden chronischen Erkrankungen bewegen, liegen zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung in der Regel nicht die Daten vor, die die Behörden (Gemeinsamer Bundesausschuss G-BA und Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG) standardmäßig erwarten. Deshalb ist es wichtig, die Kriterien der Nutzenbewertung an die Erkrankung und die Behandlungsform anzupassen und gemeinsam eine Form der Datenerhebung zu definieren, die realistisch ist und von allen Seiten akzeptiert wird. Hier sind wir im intensiven Austausch, um Lösungen zu finden.

Björn: Wir waren an fünf von den acht identifizierten Handlungsfeldern als Autor:innen beteiligt und werden jetzt weiterhin in den jeweiligen Arbeitsgruppen bei der Umsetzung der Nationalen Strategie mitarbeiten. Hier ein konkretes Beispiel: Wir engagieren uns aktiv beim Aufbau eines nationalen Krankheitsregisters für Duchenne Muskeldystrophie.  Dieses Register wird dann direkt mit dem nationalen ATMP-Register verknüpft. Gemeinsam können sie als mögliche Blaupause für eine sinnvolle und standardisierte Erfassung von Anwendungsdaten dienen. Wir arbeiten u. a. auch gerade intensiv daran, die komplexe Herstellung von Gentherapien deutlich effizienter zu gestalten und sie somit auch zukünftig kostengünstiger zu machen. In Penzberg haben wir dafür dieses Jahr ein eingeweiht.

Björn: Durch meine Arbeit an der Nationalen Strategie sehe ich tatsächlich in der Studienlandschaft in Deutschland einen sehr großen Hebel. Da kommt uns der Föderalismus ein bisschen in die Quere. Wir haben hier in Deutschland eine sehr fragmentierte Landschaft mit unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern. Hier würde eine Zentralisierung und Vereinfachung die Prozesse erheblich schneller und ressourcenschonender machen. Ein Beispiel ist die Datenschutzerklärung, die in jedem Bundesland anders ist, oder die Vertragsgestaltung mit einzelnen Studienzentren, die durch Textbausteine vereinfacht werden kann. Ich hoffe, dass wir es gemeinsam schaffen, dass Deutschland wieder eine Spitzenposition erlangt, damit auch hier Gen- und Zelltherapien den Patient:innen frühzeitig zur Verfügung stehen.

Björn: Unser Gesundheitssystem sollte noch stärker als ein Netzwerk verstanden werden, in dem wichtige Informationen schnell und ohne Barrieren ausgetauscht werden, um Patient:innen die bestmögliche Therapie zu bieten. Derzeit arbeiten wir oft in Silos, sowohl in der Industrie als auch in Behandlungszentren. Ein intensiverer Austausch, wie bei Tumorboards, könnte helfen, die beste Therapie für Patient:innen zu finden.

Darüber hinaus sollte das Gesundheitssystem nicht nur als Kostenfaktor, sondern als Investition betrachtet werden. Gesundheit ist wertvoll. Wenn jede Patientin und jeder Patient bestmöglich behandelt wird, wird ein Mehrwert geschaffen - für den Einzelnen aber auch für die ganze Gesellschaft.

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