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Die Coronakrise zeigt unübersehbar auf, wie essenziell die Integration von Diagnostik und Behandlung, aber auch von Vorsorge ist. So wird unser Blick auf die Gesundheit ganzheitlicher. Die Akteure im Gesundheitssystem müssen sich besser vernetzen, um mehr Wirksamkeit zu erreichen. Angesichts der Bedeutung, welche die Gesundheit im Leben der Menschen und Gesellschaften hat, ist der Umbau unserer Gesundheitsarchitektur ein Projekt historischen Ausmaßes. Seine Konturen und Eckpunkte sind aber heute schon sichtbar. Sie lassen sich beschreiben und teilweise sogar beobachten – in dem, was wir aktuell erleben, aber auch in zukunftsweisenden Projekten rund um den Globus.

Ein Beitrag von Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher, Publizist und Gründer des Zukunftsinstituts in Frankfurt a. M. und Wien, aus dem Keynote-Vortrag während der Roche Tage 2022

Matthias Horx ist Journalist, Autor zahlreicher Bücher und Studien, Herausgeber des jährlich erscheinenden Zukunftsreports und Redner zu sozialen, technologischen, ökonomischen und politischen Trends. 1998 gründete er das Zukunftsinstitut mit heutigem Sitz in Frankfurt a. M. und Wien, das heute als einer der einflussreichsten Think Tanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung gilt. Seit 2010 wohnt Matthias Horx mit seiner Familie im Future Evolution House am Stadtrand von Wien, das er gemeinsam mit seiner Frau Oona Horx-Strathern und dem Architekten Hans Peter Wörndl entworfen hat. Zentrale Fragen bei der Planung waren unter anderem, wie sich Individualisierung, Gesundheit, Alterung und Ökologie realistisch vereinen lassen.

Die Coronakrise ist ein kollektives Erlebnis, das wir seit zwei Jahren mit den Menschen in unserer Umgebung, aber auch weltweit teilen. Gleichzeitig erlebt jeder einzelne diese Disruption des Alltags auf ganz persönliche Weise. Wir haben erlebt, dass wir eine Massengesellschaft sind, die aber nicht mehr zusammenkommen darf. Wir haben gespürt, dass wir aufeinander angewiesen sind, gerade weil wir einsam und in unserer Bewegungsfreiheit beschränkt waren. Wir haben Widerstand geleistet und auf den Balkonen getanzt. Wir haben gesehen, wie die Intensivmedizin an ihre Grenzen gekommen ist: die Einsamkeit und Anonymität auf den Intensivstationen ebenso wie der beeindruckende Heroismus all jener, die dort unter schwersten Bedingungen gearbeitet haben. Was haben diese Erfahrungen nun mit uns gemacht? Wie hat sich dadurch unsere Einstellung zu Medizin und Gesundheit verändert? Und vor allem: Wie wird sich das Erlebte auf die Zukunft der Medizin auswirken?

Aus Sicht der Trend- und Zukunftsforscher:innen kann festgehalten werden: Es hat sich erwiesen, dass nichts wichtiger ist als die Gesundheit, womit dieser Megatrend enorme Zukunftspotenziale in sich trägt. Allerdings müssen wir lernen, Gesundheit auch als gesellschaftliches und soziales Potenzial zu sehen – und unser Gesundheitssystem besser mit Vorsorge und Lebensverbesserung, auch mit Fragen der Ökologie, zu vernetzen. Doch was genau verstehen wir unter dem Begriff Gesundheit? Für die Menschen der Industriegesellschaft vor rund hundert Jahren hieß Gesundheit, nicht krank zu sein, funktionsfähig zu sein und arbeiten zu können. Später, in den letzten Jahrzehnten der postindustriellen Gesellschaft, wurde unter gesund sein zunehmend auch fit und entspannt sein verstanden. Der heutige Gesundheitsbegriff erweitert sich um die Frage: Wie lebenskompetent sind wir? Das heißt konkret, wir beschäftigen uns mit Wellbeing, Vitalität, Authentizität, Lebensbalance und Selbstwirksamkeit. Umgekehrt schauen wir auch auf krankmachende Faktoren wie Stress und Informationsüberflutung. Im Zuge der begrifflichen Erweiterung werden auch die Ansprüche an das Gesundheitssystem größer, das bisher eher ein auf Heilung fokussiertes Krankheitssystem war. Neue, umfassende Antworten für das Gesundheitssystem der Zukunft sind nötig.

Gesundheit ist immer ein komplexes Wirkungsgefüge und Teil eines Trend-Netzwerks mit unterschiedlichen Trends wie Life-Balance, Corporate Health, Komplementärmedizin oder auch dem Bio-Boom. Auf der Suche nach dem Gesundheitssystem der Zukunft müssen wir deshalb verschiedene Systeme betrachten und differenzieren. Das Krankheits-(Behandlungs-)System beschäftigt sich mit dem Verlauf und der Behandlung oder Verhinderung von Krankheiten mit seinen verschiedenen Playern: Ärzte, Pharmaindustrie, Pflege, Reha, Verbände, Krankenkassen. Daneben gibt es ein Gesundheits-(Erhaltungs-)System, das alles umfasst, was uns fit und gesund hält, also Familie, soziale Umgebung, Umwelt, Arbeit, Lebensenergie oder (Körper-)Wissen. Zwischen dem System zur Krankheitsbehandlung und dem zur Gesundheitserhaltung finden wir das humane Heilungssystem, das sich mit der Frage beschäftigt, wie Menschen heilen. Die entscheidenden Zukunftsweichen stellt aber die ganzheitliche Gesundheit, auch Holistic Health genannt, die sich an der Schnittstelle zwischen diesen verschiedenen Systemen befindet. Wenn wir nun verstehen wollen, was an den Schnittstellen passiert, müssen wir bei der Diagnostik ansetzen. Sie ist Dreh- und Angelpunkt des Gesundheitssystems der Zukunft. Dieser ganzheitliche Gesundheitsbegriff ist also das Ergebnis eines komplexen Wirkungsnetzwerks, das Einfluss auf die Gesundheit von Individuen und ganzen Bevölkerungen hat. Künftig werden auch Faktoren wie Bildung, Gesetzgebung, Architektur oder Arbeitsumgebungen Teil des ganzheitlich verstandenen Gesundheitsbegriffs sein. Wichtig dabei: Diese Faktoren liegen nicht in der Verantwortung von Individuen, sondern von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft.

Es gibt bereits Beispiele, die zeigen, wie Gesundheitssysteme im Hinblick auf die Schnittstellen zwischen Gesundheitsanbietern (Gesundheits-Erhaltungs-System), Krankheitsanbietern (Krankheits-Behandlungs-System) und Gesellschaft umgebaut werden können. So ist Dänemark dabei, sein Gesundheitssystem radikal zu verändern, und setzt dabei auf Vertrauen, Kooperation von Wissenschaft und Technik sowie auf eine breite Beteiligung der Bevölkerung. Das gemeinsame Ziel dieses Umbaus war ein effizienteres Gesundheitswesen, das allen Einwohner:innen gleichermaßen zugänglich ist und das schnelle Diagnosen und hohe Behandlungsstandards für alle gewährleisten kann. Besonders im Fokus standen dabei chronisch Kranke und ältere Patient:innen, die Patientensicherheit im Allgemeinen sowie eine größere Einbeziehung der Patient:innen in Behandlungsentscheidungen. Als Teil der Umsetzung werden seit 2015 ein Drittel der 70 Krankenhäuser des Landes geschlossen. Im Gegenzug wurden zahlreiche dezentrale Akut-Ambulanzen aufgebaut und im Rahmen eines Superspital-Programms 16 Alleskönner-Hospitäler gebaut. Es gibt die digitale Krankenakte für alle Bürger:innen sowie einen breiten Zugang zur Videomedizin.

Auch in anderen Ländern gibt es Beispiele für ein neues, ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Gesundheitssystemen. In Japan werden Firmenchef:innen für das Übergewicht ihrer Mitarbeitenden in die Pflicht genommen. Notfalls werden Schrittzähler verordnet oder Strafgelder eingezogen. Dass Gesundheit auch in Zukunft bezahlbar sein kann, beweist Israel. Das dortige Gesundheitssystem hat die besten organisatorischen Standards. Der Anteil der Gesundheitskosten am BIP beträgt dabei nur 7,7% (in Amerika 16%) bei höchster Qualität auch in der Spitzenmedizin. Die Israelis bleiben sehr lange gesund bei hohem Durchschnittsalter. Das Gesundheitswesen der Niederlande wiederum basiert auf einem Einschreibesystem bei Hausärzt:innen, in dem sie auch für die Gesundheit der Klient:innen und nicht nur für die Behandlung bezahlt werden.

Diesen Ansatz der Concierge Care, also der erweiterten Hausarztkontrakte, verfolgt auch der US-amerikanische Gesundheitsanbieter Forward. Basis des Geschäftsmodells ist ein pauschalierter Einschreibebetrag, und zwar pro Kund:in und nicht pro Behandlung. Dafür erhalten die Kund:innen rund um die Uhr Zugang zu einem persönlichen Arzt, der gleichzeitig Coach und Gesundheitsratgeber ist. So erhalten sie Orientierung im überkomplexen Gesundheitssystem und der persönliche Arzt hält die Fäden der verschiedenen Anbieter von Diagnostik und Therapie in der Hand. Unterschiedliche diagnostische Parameter werden vom persönlichen Arzt regelmäßig gemessen, um frühzeitig und niederschwellig intervenieren zu können. Das können Lebensstilveränderungen oder Gesundheitscoachings sein. Das System beruht auf einer proaktiven Gesundheitsversorgung. Ziel ist es, die Gesundheit zu erhalten – anstelle eines reaktiven Systems zur Behandlung von Krankheiten.

Betrachten wir Gesundheit ganzheitlich, müssen wir auch einen Blick auf die Gebäude werfen, in denen wir Gesundheitsleistungen erhalten. Studien haben gezeigt, dass Heilung auch von der richtigen Umgebung abhängt. Tatsächlich sind Krankenhäuser heute oft so gestaltet, dass sie Patient:innen, statt zu heilen sogar in der Krankheit festhalten. Auch hier gibt es viele wegweisende Beispiele, die zeigen, wie eine gesundheitsfördernde Architektur aussehen kann. Für die Maggie’s Cancer Centres in Großbritannien, benannt nach der Stifterin und Gründerin Maggie Keswick, haben renommierte Architekt:innen Reha-Zentren für Krebspatienti:innen entworfen. Ziel war es, einladende, beruhigende Räume zu schaffen, in denen Patient:innen entspannen können, Privatsphäre finden und Informationen in ihrem jeweils eigenen Tempo aufnehmen können. Ähnliche Wege gingen das Danish Neuroscience Center und das Lissabon Center for the Unknown, ein Forschungszentrum für Krebs. Durch die höhere Durchlässigkeit von Therapie und Forschung sollen Patient:innen mit der Krankheit Krebs leben lernen und werden dabei von Forscher:innen und Ärzt:innen begleitet.

Gesundheit ist ein Leitwert des 21. Jahrhunderts. Gleichzeitig ist das Gut Gesundheit schwer zu fassen und beinhaltet auch Themen wie Lebensenergie und lebenswerte Zukunft. Es gibt verschiedene Denkschulen in der Medizin, das wurde auch jetzt in der Coronazeit offensichtlich: Schulmedizin, Hightech-Medizin, Alternativmedizin und integrierte Medizin. Wir müssen die Vorteile all dieser unterschiedlichen Ansätze verstehen und integrieren. Statt Kulturkriege und Spaltungstendenzen über den richtigen Weg zu befeuern, müssen wir gemeinsam das Gesundheitssystem der Zukunft bauen. Dazu benötigen wir einen Schulterschluss aller Akteure: Apotheker:innen, Ärzt:innen, Rehakliniken, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Politik, Forschung, Patient:innen, aber auch die sogenannten Hidden Players wie Ernährungsindustrie, Architektur, Sport und die Zivilgesellschaft. Wir müssen die Beziehungen aller Beteiligten gestalten, die Bedürfnisse und Fähigkeiten aller integrieren, um so zu einem höheren Verständnis des Technischen im Humanen und zum sozialen Miteinander zu kommen, das eine Gesellschaft ausmacht.

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